Sonntag, den 23. März 2003 um 00:00 Uhr
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Assekuranzkrise und Folgen

Harte Zeiten für Geschädigte: Die Versicherungsgesellschaften klagen in Schadensfällen zurzeit lieber, bevor sie zahlen.

Von Jürgen Hennemann

Erschienen in der Welt am Sonntag vom 23.03.2003

Neben den Banken befinden sich auch die deutschen Versicherer in ihrer schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Weltweite Großschäden, latent defizitäre Ergebnisse im Geschäft mit Industrie- und Privatkunden sowie die seit Frühjahr 2000 währende Krise an den Kapitalmärkten haben die Ertragslage der Versicherer drastisch verschlechtert.

Zwischenzeitlich vergeht kaum ein Monat, in dem nicht eine weitere Reduzierung der Renditen in der Kapitallebens- und Rentenversicherung vorgenommen oder angekündigt wird. Dabei hat sich der Versicherungsmarkt durch das Verschwinden zusätzlicher Direkt- und Serviceversicherer weiter bereinigt, während ein Unternehmen wie der Gerling-Konzern - über Jahrzehnte eine Perle der weltweiten Industrieversicherung - nun bereits seit Monaten erfolglos zum Kauf feilgeboten wird. Folglich will auch der erstmals nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 laut gewordene Hilferuf der Versicherer nach dem Staat nicht verhallen. Während Gewinne in einem bis 1994 regulierten Markt über Generationen ausschließlich privatisiert wurden, verlangt die Branche - die sich immerhin freiwillig dem Geschäft mit dem Risiko verschrieben hat - zwischenzeitlich immer unverhohlener nach staatlichen Garantien für Terroranschläge oder Naturkatastrophen. Zudem wird der Gesetzgeber gedrängt, eine private Alterszusatzversicherung zwangsweise anzuordnen. In diesem negativen Umfeld verwundert es nicht, dass die Zeiten auch für Versicherungsnehmer, Geschädigte und Opfer ständig härter werden. Auf der Vertragsseite kündigen Versicherer die Policen sowohl ihrer gewerblichen als auch ihrer Privatkunden häufig ohne erkennbaren Grund, um diesen anschließend einen Neuabschluss zu drastisch erhöhten Prämien oder verschlechterten Bedingungen anzubieten. Auch lassen Versicherer ihre Kunden wissen, dass sie sich aus bestimmten Risiken mittlerweile ganz zurückgezogen haben.

Kaum besser ergeht es den Betroffenen nach Eintritt eines Schadensfalles. Während Haftpflichtversicherer seit jeher dafür bekannt sind, Opfer und Geschädigte häufig wie lästige Bittsteller erscheinen zu lassen, was zumindest die Oberlandesgerichte mit zwischenzeitlich drastisch erhöhten Schmerzensgeldbeträgen sanktionieren, verhalten sich gegenwärtig auch Personen- und Sachversicherer ihren Kunden gegenüber entsprechend. Ihr Verhalten scheint dabei von der Maxime geprägt zu sein, dass es gegenwärtig vorzuziehen ist, Schadenregulierungen teils unvertretbar zu verschleppen oder Entschädigungsleistungen gänzlich abzulehnen anstatt Geld auszugeben, von dem man zumindest momentan glaubt, dass man es nicht hat. Während in den Etagen der Versicherer über lange Jahre der Grundsatz vorherrschte, dass die Häuser die Führung von Prozessen tunlichst vermeiden, um - wenn Entsprechendes nicht möglich erscheint - diese regelmäßig zu gewinnen, ist auch diese Regel inzwischen außer Kraft gesetzt. Dabei erachten es Versicherer gegenwärtig sogar in zunehmendem Maße für legitim, nach Schadensfällen mit abwegig anmutenden Vorwürfen und Begründungen strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen ihre Kunden einzuleiten, um ihr Ablehnungsverhalten auf diese Weise zu legitimieren.

Begünstigt wird dieses Verhalten nicht zuletzt dadurch, dass das auch im internationalen Vergleich als unzulänglich geltende deutsche Haftungs- und Versicherungsrecht eine nachhaltige Sanktion derartigen Verhaltens nicht vorsieht. Demgegenüber gewährt das anhand von Einzelfällen zumeist pauschal und undifferenziert gescholtene amerikanische Haftungs- und Versicherungsrecht Geschädigten in Fällen der Blockade oder Verschleppung von Entschädigungsleistungen einen gesonderten, dem moralischen Unwert des Verhaltens Rechnung tragenden Schadenersatzanspruch gegen den Versicherer.

Der Autor ist Rechtsanwalt in Buchholz bei Hamburg, Schwerpunkt Haftungs- und Versicherungsrecht